DIE WANNSEEKONFERENZ (1984)

„WIR LEBEN NICHT SO LANGE, WIE WIR ERSCHÜTTERT SEIN MÜSSTEN“

Interview mit dem Autor Paul Mommertz zur Uraufführung der Theaterfassung im Volkstheater Wien am 19. September 1986, veröffentlicht in der „VT-Zeitung“ Nr. 1:

Die Wannseekonferenz war das Schlüsselereignis eines in der Geschichte einzigartigen Verbrechens: die Organisation der bürokratischen Vernichtungsmaschinerie für Millionen Juden.

Paul Mommertz beschreibt in seinem gleichnamigen Stück „Die Wannseekonferenz“ das Zusammentreffen einer Handvoll führender Persönlichkeiten des Dritten Reiches in Berlin im Januar 1942. Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer und Chef der Sicherheitspolizei und des SD, hatte dazu geladen. Die Folgen der Konferenz: der Holocaust - unvorstellbares Leid und der Tod für Millionen Juden.

Mommertz geht es in diesem Stück um die Schreibtischtäter in den Kommandozentralen, um die Gruppe vollkommen normal wirkender Menschen, die einen „verwalteten“, „ordentlichen“, „anständigen“ Völkermord beschlossen und organisierten; Menschen, für die das Töten nur eine Frage der Methode und Millionen Menschen nur eine statistische Grösse war.

Das Gespräch mit dem erfolgreichen, in München lebenden Autor führte Dramaturgin Evelyn Schreiner.

VT: Herr Mommertz, Sie gelten als Spezialist für Stücke und Drehbücher mit zeitgeschichtlichem Inhalt.

M: Ich veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zum Nationalsozialismus, darunter das Bühnenstück „Aktion T 4“ über die Tötung Geisteskranker. Es wurde 1964 an den Münchner Kammerspielen aufgeführt, die ihm auch einen Dramatikerpreis verliehen haben. Ausserdem schrieb ich Drehbücher für mehrere Fernsehfilme zur Nazizeit, so zu einem mehrfach ausgezeichneten Film über die Wannseekonferenz, auf dem auch die Bühenfassung beruht.

VT: Wodurch unterscheidet sich dieses Stück von Ihren anderen Stücken und Drehbüchern?

M: Hier wird erstmals Einblick gegeben - nicht in die Durchführung der Judenvernichtung, sondern in ihre Planung. Ich versuchte, die bisher stets offengebliebene Fragen nach den verantwortlichen Befehlsgebern an der Spitze des Regimes, ihrer Mitarbeiter und Mitwisser, ihren Methoden und ihren wirklichen und vorgeblichen Motiven zu beanworten. Der Wunsch, diese zusätzlichen Informationen zu vermitteln, veranlasste mich, dieses Stück zu schreiben.

VT: Die Wucht der schier unglaublichen Fakten macht ungeheuer betroffen. Auf welche Quellen stützt sich das Stück?

M: Die besondere historische Dimension des Themas führte mich zum Verzicht auf eine Dramatisierung mit Hilfe fiktiver Elemente; ich strebte vielmehr eine möglichst authentische Rekonstruktion der Konferenz an, auf der das Reichssicherheitshauptamt der SS zahlreiche andere Dienststellen des Dritten Reiches in die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" eingeschaltet hatte.

Hauptquellen sind das erhalten gebliebene Protokoll der Konferenz, die schriftlichen Stellungnahmen der beteiligten Dienststellen nach der Konferenz, insbesondere des Innen-, Aussen- und Justizministeriums sowie die Protokolle der Nachfolgekonferenzen. Das dokumentarische Material wurde ein Jahr lang quellenkritisch geprüft und ausgewertet, ehe es sich mit innerer Logik zum Text des Stückes fügte.

VT: Das durch die vordergründige Banalität der Konferenz verdeckte ungeheuerliche Geschehen wirkt um so erschütternder, als Sie die Sprache dieser Unmenschen genau kennen und verwenden. Ganz locker wird da von „Umvolkung“, „Wegarbeiten der Juden“, „Restquoten“ gesprochen. Dazu wird Kognak getrunken, Zigarren geraucht, gefrühstückt. Woher wissen Sie das?

M: Über den äusserlichen Ablauf der Konferrenz sind wir gut unterrichtet durch Adolf Eichmanns Aussagen bei seinem Prozess in Israel. Eichmann sagte in Jerusalem aus, dass die Ordonnanzen während der ganzen Konferenz Kognak gereicht hätten und erinnerte sich genau an die lockere Stimmung der Konferenzteilnehmer. Ich zitiere: „Die aufgelockerte Stimmung fand ihren sichtbaren Niederschlag in der aufgelockerten Haltung Heydrichs ... Es wurde von Vernichten, Eliminieren, Töten gesprochen in sehr unverblümten Worten ... sehr unparagraphenmässigen Formulierungen ... mit gewissen, nun sagen wir mal, sprachlichen Auswüchsen ... also einem gewissen damaligen Jargon ... entsprechendes Gelächter ...“

Man konferierte auf höchster Ebene, aber auf niedrigstem Niveau; besonders schockiert die Diskrepanz zwischen Sprache und Besprochenem. Die Tragödie von Millionen Menschen wurde zynisch diskutiert bei der SS, bürokratisch bei den Vertretern der Ministerien, vulgär und pöbelhaft bei den Vertretern der Partei.

Man findet Belege für diese typische Unangemessenheit von Form und Inhalt auch in anderen Zeitzeugnissen, so im Wortprotokoll der Münchener Parteikonferenz unter Leitung von Hermann Göring nach der sogenannten "„Reichskristallnacht". Die Annahme, dass auf solchen Konferenzen in einem akademisch zurückhaltenden Ton gesprochen wurde, nur weil die Teilnehmer hauptsächlich Akademiker waren, ist falsch.

VT: Ich habe den Eindruck, dass Ihnen persönlich sehr viel daran liegt, dass man sich heute mit diesem Thema beschäftigt, dass ein Theater ein Stück wie „Die Wannseekkonferenz“ spielt.

M: Ja. Ich wurde 1930 geboren, war bei Kriegsende fünfzehn Jahre alt und Mitglied der Hitlerjugend. Ich hätte nach dem „Endsieg“ der Nationalsozialisten vielleicht meinen Weg genommen als Journalist, Redakteur und Autor der Reichsschrifttumskammer und hätte den früher oder später bekannt gewordenen Holocaust vielleicht im Sinne der Natioalsozialisten interpretiert, nämlich als bittere Notwendigkeit zum Besten des Grossdeutschen Reiches.

Diese unheimliche Vorstellung einer durch die Gnade der allierten Befreiung vielleicht gerade noch verhinderten Lebenslüge begleitet mich seither als traumatische Frage, die mich nicht loslässt.

Hitler hätte im Falle eines Falles Millionen Pöstchen zu vergeben gehabt im „neugeordneten Europa“. Keines davon wäre heute unbesetzt. Schon gar nicht unbesetzt von jenen, die immer und überall für eine Karriere gut sind. Ach ja, wir werden nicht gern daran erinnert, was in uns steckt ...

Was aber den Holocaust betrifft, so kann ich nur sagen: Wir leben nicht so lange, wie wir erschüttert sein müssten. Erschüttert über das Geschehene, erschüttert über die uns erspart gebliebene Schuld.

Und noch etwas: Auch heute, jetzt, wird an Konferenztischen über das Leben, die Gesundheit, das Eigentum von Millionen Menschen vorentschieden, ohne dass die Betroffenen gefragt werden. Natürlich wollen die Verantwortlichen nicht, was sie möglich machen. Aber sie machen möglich, was wir nicht wollen. Und wir? Schweigen wir? machen wir mit? Man fragt sich oft, was wir aus der Geschichte gelernt haben.

Wannseekonferenz