Wannseekonferenz – Übersicht
DIE WANNSEEKONFERENZ (1984)
Von der Abwehr einer historischen Information durch Filmkritik
Festschrift zum DAG-Fernsehpreis 1985
Die Wannseekonferenz war ein zentrales Ereignis bei der Organisation des Massenraubmordes am europäischen Judentum. Der Film über die Konferenz ermöglicht erstmals Einblick in die Kommandozentralen des Holocaust. Er soll helfen, quälende Blindstellen in unserem Bild jenes unerhörten Verbrechens aufzuhellen.
Das Fernsehen hat den Film ausgestrahlt ohne angemessene Voraus-information. Bei den im Metier Film und Fernsehen beruflich Tätigen fand er dennoch eine überaus positive Aufmnahme und ernste Bereit-schaft, sich auch mit dem Inhaltlichen auseinanderzusetzen. Beim alleingelassenen Normalzuschauer aber löste er eher Verwirrung aus.
Und bei der deutschen Kritik endlich stiess der Film auf nahezu totale Ablehnung und Fehleinschätzung. Man sprach von der übelsten Ent-gleisung, die sich das Fernsehen in Sachen Zeitgeschichte geleistet habe, von der grenzenlosen Phantasie eines inkompetenten Autors, von einem schädlichen und schändlichen Unfug.
Dass der Autor mit früheren Filmen zur Zeitgeschichte grosse Anerkennung fand, erwähnte man nicht. Das Gedächtnis der Tagespresse war in diesem Fall kurz.
Möglicherweise war der eine oder andere Kritiker beeinflusst durch die scheinbar vernichtende Vorkommentierung des Films im SPIEGEL: Immerhin gab man mir als Autor des Drehbuches fairerweise Gelegenheit zu einer umfassenden Erwiderung. Darin konnte ich die „Unrichtigkeiten des Films“ als Unrichtigkeiten der Kritik entlarven.
Grundsätzlich möchte ich nun einmal klarstellen: Vor diesem Film hat es keine einzige Monographie der Wannseekonferenz gegeben. Der Film ist die erste und überdies wissenschaftlich fundierte Darstellung der Konferenz überhaupt. Alle Fakten aus den Akten! Und sie sind – ein Glücksfall für den im übrigen deprimierten Historiker –erhalten in Hülle und Fülle.
Haben doch die Nazis nicht nur mit deutscher Gründlichkeit auch hier über alles und jedes Protokoll geführt, dienstliche Stellungnahmen ausgetauscht, Anktennotizen angefertigt, Denkschriften verfasst und Memoiren geschrieben, sie waren auch noch blöde genug, all das nicht zu vernichten. Zum Eichmann-Prozess in Jerusalem, wo die Wannseekonferenz eine grosse Rolle spielte, schleppte man das Aktenmaterial gleich lastwagenweise. Die Signaturen der ausgewerteten Originalakten zum Film füllen am Ende des Drehbuches mehrere Seiten.
Nicht nur unter Berufung auf Adolf Eichmann, dem Konferenzvorbereiter, Konferenzteilnehmer, Konferenzprotokollanten und Konferenzberichterstatter vor Gericht in Jerusalem kann heute unbezweifelbar festgehalten weerden: Auf der Konferenz wurde expressis verbis von der Vernichtung des europaäischen Judentums gesprochen. Es wurde die Zahl elf Millionen betoffene Menschen errechnet. Die Konferenzteilnehmer wussten genau, was gemeint war. Das Protokoll verschleiert es nicht einmal oberflächlich.
Allein die Zahl elf Millionen, zu der man gleich noch 20 Millionen russische „Untermenschen“ hinzuaddierte, war geeignet, den makabren Zahlenspielen der Verharmloser ein Ende zu machen, und hätte enormes öffentliches Interesse verdient. Doch das Echo blieb aus. Man blieb beim bequemen Totalverdikt: Alles Phantasterei!
Ein Jahr lang wurden die Dokumente quellenkritisch geprüft, bevor sie sich mit atemberaubender Zwangsläufigkeit und innerer Logik zur Rekonstruktion der Konferenz zusammenfügten. Shlomo Aronson, skeptischer Professor an der hebräischen Universität in Jerusalem, anerkannter Historiker erscheint auf eigenem Wunsch im Nachspann als Kronzeuge für die Glaubwürdigkeit der Rekonstruktion.
Der Produzent des Films und sein Initiator, Manfred Korytowski, Zeuge der mühsamen, detektivischen und akribischen Vorbereitungen zum Drehbuch, schreibt: „Ich bin Jude und rassisch Verfolgter. Meine Familienangehörigen habe ich im Holocaust verloren. Es wäre eine Beleidigung nicht nur dieser Toten, hätte ich über die Vorgänge, die zu ihrer Ermordung führten, einen hingeschluderten Film gemacht.“
Unsere Damen und Herren Kririker aber blinzeln mal eben in die Röhre und sind komplett im Bilde: Übles Machwerk! Verfälschung! Geschichtsklitterung! Von Begründung solcher Zensuren keine Spur.
Nun fand sich ein gewichtiger Zeuge der Zeitgeschichte, Herr Preofesor Dr. Robert Kempner, vormals Hauptankläger im Nürnberger Wilhelmstrassen-Prozess gegen hochkarätige Ministerial-Nazis. Professor Kempner begegnete in Nürnberg auch einigen Teilnnehmern an der Wannseekonferenz. Sie konnten sich an gar nichts erinnern, teilweise nicht einmal daran, je am Wannsee gewesen zu sein, bis Kempner ihnen das Gegenteil bewies – ein zeitloses Muster.
In einem Leserbrief an verschiedene Zeitungen schrieb Professor Kempner: „Aufgrund meiner genauen Ketnnis kann ich feststellen, dass die in dem Fernsehspiel vorgetragenen Tatsachen mit wenigen Ausnahmen auf Wahrheit beruhen.“
Eine Tatsachen-Übereinstimmung bis auf wenige Ausnahmen ist nun bei der Beurteilung brisanter historischer Vorgänge schon viel. Allerdings ist Professor Kempner weder Historiker wie der Autor, noch erlebte er wie der Autor die Nazizeit in Deutschland. Professor Kempner fährt fort: „Unsinnig ist jedoch die Darstellung in einer Art Stammtisch-Milieu mit Trinken, faulen Witzen und Flirts mit einer gar nicht vorhanden gewesenen Sekretärin. Kitschig. Schade!“
Nun könnte man sagen: Hauptsache, die Hauptsachen stimmen! Dies würde aber bedeuten, jenen unter die Arme zu greifen, die gern pars pro toto schliessen: Wenn schon die Nebensachen nicht stimmen, warum sollten dann die Hauptsachen stimmen? Ich aber bestehe darauf, dass beides stimmt: Hauptsachen und Nebensachen.
Einem vornehmen Herrn wie Professor Kempner, dem sich nach dem Krieg die Wannseeherren aus der obersten Beamtenkategorie gewiss manierlich präsentiert haben, mag es schwer eingehen, dass eine solche Konferenz sich nicht abgespielt haben soll nach den Regeln des guten Benimms.
Der Kern der Sache und des Films war aber gerade die nachweislich unerhörte Diskrepanz von Thema und Ton. Ein typisches Signum jener Zeit überhaupt. Und im vorliegenden Zusammenhang eine zeitgeschichtliche Information von grossem Aussagewert! Halten wir uns der Kürze und Einfachheit halber wieder an Eichmann:
Man trank nicht? Eichmann in Jerusalem: „Die Ordonnanzen reichten die ganzen neunzig Minuten lang Cognac!“
Kein Stammtisch-Milieu? Eichmann: „Die aufgelockerte Stimmung fand ihren sichtbaren Niederschlag in der aufgelockerten Haltung Heydrichs ... allgemeine Zufriedenheit ... Wortschwall allerseits ... Durcheinander zumal gegen Ende ... Heiterkeit!“
Keine faulen Witze? Eichmann: „Es wurde von Vernichten, Eliminieren, Töten gesprochen ... in sehr unverblümten Worten ... sehr unparagraphenmässigen Formulierungen ... mit gewissen, nun ja, sagen wir mal, sprachlichen Auswüchsen ... also einem gewissen damaligen Jargon ... entsprechendes Gelächter ... zunehmend im zweiten Teil ...“ Und so weiter.
Eine Sekreträrin nicht vorhanden? Eichmann: Meine zweite Aufgabe anlässlich der Wannseekonferenz war, mit einer Sekretärin Protokoll zu führen, die Stenotypistin sass neben mir. „Kein Flirt?“ Auch hier gibt es zumindest Hinweise darauf, dass Heydrich von dieser Dame sehr angetan war, sie mit besonderer Courtoisie behandelt und später zu sich in sein Sekretariat nach Prag berief. Im Film spricht er diese Möglichkeit kurz an, zusammen mit einem kleinen Kompliment – das ist qua Flirt alles in dem Film. Übrigens hatte Eichmann weder Vorteile noch Nachteile für sich für seine diesbezüglichen Aussagen vor Gericht zu erwarten. Er erinnerte sich einfach.
Was die Nebensachen betrifft, erinnert sich der Autor seinerseits an das, was andere Quellen über Auftreten und Redeweise vom Nazikonferenzen enthüllten, zum Beipiel an die indignierten Schilderungen hochrangiger NS-Konferenzen, wie sie uns der Ministerialrat Lösener vom Innenministerium hinterlassen hat.
Er erinnerte sich insbesondere an jene berüchtigte Konferenz unter des Reichsmarschalls Göring nach der sogenannten Reichskristallnacht, auf der den Juden eine Milliarde zu zahlen aufgegeben wurde, eine Konferenz, von der wir sogar ein Wortprotokoll besitzen und das über das Sprachniveau dieser Herrschaften erschreckende Auskunft gibt.
Schliesslich erinnerte sich der Autor an seine eigenen traumatischen Erfahrungen mit den Funktionären des Dritten Reiches bis zu seinem immerhin fünfzehnten nicht gerade ereignislosen Lebensjahr.
Nicht unerwähnt seien auch Zuschauerbriefe an den Autor, in denen immer wieder die „gespenstische Athentizität“ von Sprache, Auftreten und vermeintlichem Witz bestätigt wird.
Und übrigens bewegem sich auf Stammmmtisch-Niveu im Film ja nur die Parteiproleten und eine untere SS-Charge; die SS-Spitzen beobachten es mit elitärer Verachtung; die Vertreter der Ministerialbürokratie zeigen sich deutlich befremdet, ja schockiert. Dieses Dreiteilung – die Wehrmacht ist ein Sonderfall – entspricht exakt den damaligen Gruppenunterschieden, die im Film natürlich noch einmal individuell differenziert werden.
Wenn nun aber Literatur nicht zuletzt den Sinn hat – und auch ein Film ist im weitesten Sinne Literatur – , für alle Zeit aufzuheben, was nicht vergessen werden darf, sei es positiv oder negativ, dann sehe ich ein Hauptverdienst des Films darin, bei einer vielleicht letzten Gelegenheit und gerade noch vorhandenen Erinnerung festgeschrieben zu haben: So war ihr Aussehen, so war ihr Auftreten, so war ihre Sprache, so war ihre Gesinnung! Nicht unten – oben!
Die Kritiker aber sahen das Unerträgliche nicht bei jenen für ihre Zeit repräsentativen Schreibtischtätern, sondern beim Autor.
Und damit komme ich zu einer Schlussvermutung. Wir kennen die unteren KZ-Schergen, die Büttel, die Kaduks, die Handlanger. Oft genug haben wir uns in pilatushafter Pose von ihnen abgewandt. Intellektuelle aber, Akademiker, Ministerialbeamte, hohe Offiziere traten uns vornehmlich in Gestalt verehrungswürdiger Widerstandskämpfer entgegen, vor allem im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Oder aber in entlastenden Identifikationsfiguren wie die des oberprächtigen Haudegens Harras aus Zuckmayers „Teufels General“, der sich um die Vergangenheitsvernebelung in der Nachkriegsrestauration so unendlich verdient gemacht hat.
Die gebildeten Stände hatten somit – abgesehen von den Nürnberger Prozessen der Allierten und einigem bei Hochhut – Schonfrist. Mit diesem Tabu hat der Film über die Wannseekonfernez gebrochen, exemplarisch, unwiderleglich und brutal. Das verzeiht man nicht. Und hier liegt vielleicht die eigentliche Erklärung für die wütende, bösartige, gehässige Kritik, die Film und Autor auf sich zogen ...
Oder stört es, dass der Film unangenehmerweise wieder das leidige Thema berührt, dass man einerseits natürlich von allem nichts gewusst hat, ausser, dass man mit genagelten Stiefeln in ein Dutzend friedliche Nachbarländer einmarschiert war, berauscht von den Siegesfanfaren der Sondermeldungen des Reichsdeutschen Rundfunks, in dem Hitler allerdings gleich dreimal verkündete, er werde das Judentum mit Stumpf und Stiel ausrotten – und man andererseits wusste, dass die jüdischen Nachbarn nach Entrechtung, Enteignung und Rausschmiss aus ihren Wohnungen auf Nimmerwiedersehen abgekarrt wurden – wohin und wozu?
Liselotte Julius, Journalistin, Reakteurin, angesehen Übersetzerin, schrieb mir, viele Zuschauerpost bestätigend: „Als Zeitgenossin und Betroffene möchte ich allen Verharmlosern entgegenhalten, dass in Berlin jeder, der wissen wollte, mehr wusste als unsere Kritiker sich träumen lassen. Mein Vater berichtete völlig zusammengebrochen in Gegenwart einer noch lebenden Zeugin, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und ihres Erinnerungsvermögens ist, was er von einem Beamten eines Wilmersdorfer Polizeireviers gehört hatte:
'Die bringen alle um! Sie haben es am Wannsee beschlossen!'“
60 Exemplare des Wannsee-Protokolls liefen über hundert Schreibtische, so gab gab allein in Berlin tausende Mitwisser aus erster Hand. Wie viele wohl gab es allüberall, wo die gigantische Vernichtungsmaschine und ihre Zulieferaktivitäten in Gang kamen? Ich lebte als Gymnasiast an der Westgrenze des Reiches und bekam immerhin die Version zu Ohren: Die Juden werden in die Steinbrüche geschickt – zur 'Vernichtung durch Arbeit'!
Peinliche Erinerungen, peinliche Überlegungen. Man wischt sie lieber vom Tisch, wenn man im noch betroffenen Alter ist, und mehr noch, wenn man im unbetroffenen Alter ist oder zu sein meint. So holt sich eine leichtfertige Kritik den Beifall von der falschen Seite. Die Ewiggestrigen und heutigen Neobraunen reiben sich die Hände. Und mit Berufung auf meine Kritiker schreiben sie mir dann auch mal: „Immer diese Übertreibungen! Wenn überhaupt da was war, waren es jedenfalls nicht sechs Millionen, sondern nur zwei!“ Sechs minus vier ist Null.
Besserwisser, Verharmloser und Ignoranten reichen sich die Hand.
PM